Große Ambitionen by Osnos Evan

Große Ambitionen by Osnos Evan

Autor:Osnos, Evan [Osnos, Evan]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2015-04-21T16:00:00+00:00


1. Alle Dissidenten sind kriminell.

2. Nur Kriminelle teilen die Ansichten der Dissidenten.

3. Ob jemand kriminell ist oder nicht, entscheidet sich anhand der Frage, ob er ein Dissident ist.

4. Sind Sie der Meinung, es gäbe in China Dissidenten, sind Sie ein Krimineller.

5. Es gibt keine Dissidenten in China, weil es sich bei diesen in Wirklichkeit um Kriminelle handelt.

6. Gibt es irgendjemanden, der seinen Dissens gegen diese Sichtweise vorbringen möchte?

Die Partei hatte so viel Erfahrung im Umgang mit Dissidenten des alten Schlags, dass sie leicht übersah, wie groß ihr Informationsproblem bereits geworden war. Weil das Internet schon vor langer Zeit eine Größe erreicht hatte, die die Überwachungsmöglichkeiten des Propagandaministeriums überstieg, fiel die Onlinezensur einer ganzen Reihe unterschiedlicher Behörden zu, darunter dem Amt für Internetangelegenheiten. Dieses Amt bewertete die damit verbundenen Schwierigkeiten offen und ehrlich. Der stellvertretende Leiter, Liu Zhengron, räumte frustriert ein: »Unsere größte Herausforderung besteht darin, dass das Internet ständig wächst.«

Im alten Mediensystem hatten sich die Zensoren auf die berüchtigte Anakonda im Kerzenleuchter verlassen – auf die Tatsache, dass Hu Shuli und die anderen Redakteure sich selbst zensierten, um ihr Presseprivileg zu behalten. Im Internet konnte man dagegen nie wissen, wer etwas Gefährliches schreiben würde, bis er es schließlich tat. Zwar entfernten die Zensoren unliebsame Kommentare so schnell wie nur möglich, doch war das immer noch zu langsam, um die Weiterleitung, Speicherung und geistige Verarbeitung zu verhindern. In einem Ausmaß, wie es China in seiner Geschichte nie zuvor erlebt hatte, wurden Meinungen zuerst geäußert und dann zensiert.

Das führte wiederum zu einem weiteren Problem: Zensur, einst ein abstrakter und unsichtbarer Prozess, der sich über geheime Anweisungen und in vor der Öffentlichkeit verborgenen Redaktionssitzungen abspielte, war nun für alle Augen sichtbar. Wenn die Behörden einen von Han Hans Blog-Einträgen löschten, war das keineswegs mit dem Abfangen der per Post verschickten Manuskripte von Liu Xiaobo zu vergleichen: Millionen Internetnutzer wurden mehr oder weniger zufällig Zeuge dieses Vorgangs, auch wenn sie sonst damit zufrieden waren, ein vom bevormundenden System der Zensur unbehelligtes Leben zu führen. Wie Han Han mir erklärte, kam das einem Signal gleich: »Da gibt es etwas, dass ich in deren Augen nicht wissen sollte. Deshalb möchte ich es erst recht erfahren.«

Und so wuchs eine ganze Generation seiner Fans in dem Glauben auf, dass »alles, was man zu verbergen versucht, letztlich wahr wird«, wie Han Han es ausdrückte. In einer seiner Reden erklärte er: »Ich darf nicht über die Polizei schreiben. Ich darf nicht über unsere Staatsführung schreiben. Ich darf nicht über politische Maßnahmen schreiben. Ich darf nicht über das System schreiben; ich darf nicht über die Justiz schreiben; ich darf über viele geschichtliche Ereignisse nicht schreiben; ich darf nicht über Tibet schreiben; ich darf nicht über Xinjiang schreiben; ich darf nicht über Massenversammlungen schreiben; ich darf nicht über Demonstrationen schreiben; ich darf nicht über Pornografie schreiben; ich darf nicht über Zensur schreiben; ich darf nicht über Kunst schreiben.«

Am ehesten konnte die Partei noch darauf hoffen, Konversationen im Internet zu unterbinden, bevor sie überhaupt entstanden, indem sie sensible Begriffe automatisch herausfilterte. Weil politische



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